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Freiheit, Gleichheit, Entfaltung - Die politische Philosophie des Perfektionismus
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Freiheit, Gleichheit, Entfaltung - Die politische Philosophie des Perfektionismus
von: Christoph Henning
Campus Verlag, 2015
ISBN: 9783593432694
552 Seiten, Download: 3197 KB
 
Format:  PDF
geeignet für: Apple iPad, Android Tablet PC's Online-Lesen PC, MAC, Laptop

Typ: A (einfacher Zugriff)

 

 
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Leseprobe

I. Einleitung
Zu welchem Ende studiert man Perfektionismus?
Perfektionismus im Sinne der politischen Philosophie bedeutet, dass es gehaltvolle Vorstellungen vom guten Leben gibt, nach denen Menschen sich in ihrer persönlichen Entwicklung richten sollen und sich zugleich, so die Unterstellung, immer schon richten, sonst wäre diese Ethik theoretisch nur als abstrakte Forderung, praktisch nur als Paternalismus möglich. Diese Theorie versucht somit die Kluft zwischen Sein und Sollen in einem Aristotelischen Sinne zu überbrücken. Gut in praktischer, nicht nur moralischer Hinsicht ist es, wenn Menschen ihre Anlagen in eine wün-schenswerte Richtung entwickeln (die Tradition nannte dies 'Pflichten gegen sich selbst', Hurka 1993: 5), und wenn sie und die Institutionen andere Menschen dabei unterstützen, das zu tun (das wären dann Pflichten gegen andere). Welche Ziele dies sind, ob sie ganz oder nur annäherungsweise erreicht werden können und wie eine Förderung durch andere genau aussehen mag, darin unterscheiden sich verschiedene Versionen des Perfektionismus. Den Grundgedanken einer Entwicklung zum Guten teilen sie.
Nach dieser Vorstellung steht am Ende dieses Strebens ein Zustand des nachhaltigen Glückes, des gelingenden oder blühenden Lebens (im Eng-lischen: 'flourishing'), und nach diesem Gut streben letztlich alle Menschen. Das Kriterium dafür, ob eine solche persönliche Entwicklung gut verläuft oder nicht, ist eine im Prinzip feststellbare Größe. Das erlaubt Brückenschläge zur Sozialforschung. Der Begriff ist also abzugrenzen gegenüber der alltäglichen Verwendungsweise, die damit einen Habitus des Nie-Zufrieden-Seins bezeichnet. Ein perfektionistischer Maler betrachtet sein Werk ungern als vollendet und kann darum jahrelang an nur einem Gemälde arbeiten. Perfektionismus grenzt in diesem Verständnis an eine Pathologie, da das normale Leben so immer einen Schatten des Unvollkommenen erhält und die aktive Betätigung so gehemmt werden kann.
Dieses Verständnis ist ebensowenig gemeint wie die Spekulation einer naturhistorischen Vervollkommnung des Menschengeschlechtes, wie sie heute im Horizont der Gentechnik als Horrorszenario auftaucht. Gemeint ist vielmehr die Theorie des menschlich Guten, die dieses als glücksför-derliche menschliche Entwicklung begreift und zugleich zum normativen Maßstab sozialer Institutionen kürt. Perfektionismus ist ein ungünstiger Titel dafür, wenn es suggeriert, es ginge darum, Menschen 'perfekt' zu machen. Gerade dagegen haben sich Perfektionisten wie John Dewey oder Karen Horney gewandt, wie wir sehen werden. Falsch ist das insbesondere dann, wenn es religiöse Untertöne bekommt. Bei Aristoteles, der als zentraler Ideengeber gelten muss, besteht die Vollkommenheit des Glückes lediglich darin, das den Menschen Mögliche zu erreichen - und darüber hinaus lässt sich vernünftigerweise nichts wünschen. Das Glück als höchstes menschliches Gut genügt sich selbst (Aristoteles, NE 1094b7, vgl. 1097b7ff., 1102a15). Die menschliche Endlichkeit wird nicht zu überschreiten versucht, vielmehr wird das Streben auf erreichbare Ziele verwiesen, etwa: weg vom unendlichen Streben nach Reichtum, hin zu persönlichen Beziehungen. Dieser Gedanke findet sich noch in der Aufklärung: 'Vollkommenheit einer Sache kann nichts sein, als dass das Ding sei, was es sein soll und kann' (Herder 1793: 93). Moderne Varianten des Perfektionismus, etwa bei Dewey, haben sich zwar gegen Aristoteles' Vorstellung eines erreichbaren Zustands gewandt, bleiben wie er aber diesseitig gerichtet: 'Not perfection as a final goal, but the ever-enduring process of perfecting, maturing, refining is the aim in living' (Dewey 1920: 141).
Die konfliktgeladene Aristotelesrezeption des Christentums versuchte allerdings, dieses menschliche Glück als etwas Jenseitiges zu begreifen. Erst dieses Mischprodukt verleiht der Perfektionierung ihre scheinbare Hybris. Sich selbst gottähnlich machen zu wollen macht allerdings weder aus Aristoteles' Perspektive Sinn, da es ein unerreichbares Ziel wäre, noch - will man nicht pagan-magischen Praxen das Wort reden - aus christlicher Sicht: Keine Werkgerechtigkeit der Welt könnte dies vor Gott vollbringen.
Christen können hoffen, dereinst erhöht zu werden, aber es nicht aus eigener Kraft erzwingen wollen. Selbst wo es im antiken Christentum Selbstvergöttlichungskonzepte gegeben hat (etwa bei Origines, der von theosis spricht), führen diese eher in die Mystik als in den ethischen und politischen Perfektionismus. Darum sei betont: Der Perfektionismus will Menschen nicht perfekt machen. Er möchte Menschen dazu ermuntern, sich und ihre Institutionen zu entwickeln und glücksförderliche praktische Ziele zu erreichen. Aristoteles begreift das als endliche Praxis, da die Möglichkeiten des Menschen endlich sind; Condorcet begreift es als potentiell unabschließbare Praxis, weil die Verbesserungsmöglichkeiten der Erzeugnisse des Menschen unendlich sind. Liest man es so, ist das nicht einmal ein Widerspruch. Um den Perfektionismus weiter einzukreisen, seien zwei seiner grundsätzlichen Annahmen vorausgeschickt:
Erstens haben Menschen zwar eine bestimmte, allen ungefähr gemein-same natürliche Ausstattung, kommen mit ihrer Geburt aber nicht fertig auf die Welt. Sie müssen sich erst entwickeln, darum ist es ein Ziel, und keine vorfestgelegte Sicherheit, dass diese Entwicklung gut verläuft. Es ist nicht einmal festgelegt, in welche Richtung die Entwicklung gehen soll. Merkmal ihrer natürlichen Ausstattung ist vielmehr eine ungeheure Plasti-zität und Vielseitigkeit. Arnold Gehlens Aussage, 'der Mensch' sei das nicht festgestellte Tier, wird meist nur bis auf Nietzsche und Herder zu-rückverfolgt. Doch ein solches Denken findet sich bereits im 17. Jahrhundert, etwa bei Pufendorf, und ist dort eng mit dem Gedanken der menschlichen Perfektibilität verbunden (Rüdiger 2010). Die elliptische Aussage, dass Menschen eine Natur haben, die sie erst entwickeln müssen, kann allerdings auf zwei Weisen verfehlt werden: Falsch wäre sowohl die Folgerung, der Mensch sei durch seine Natur auf bestimmte Weisen zu leben festgelegt (das wäre ein beengender Naturalismus), als auch die, seine Entwicklung sei völlig beliebig (das wäre ein entmutigender Voluntarismus). Der perfektionistische Ansatz geht einen Mittelweg, indem er verschiedene Weisen der Entwicklung betrachtet und bewertend vergleicht.
Zweitens kann ein Einzelner, gerade weil er oder sie unfertig geboren wird, eine solche Entwicklung nicht allein unternehmen ('it takes a village to raise a child'). Menschen sind nolens volens soziale Wesen - selbst Misanthropen haben diese ihre Eigenschaft in Bezug auf andere Menschen. Aus diesem Grund sind in perfektionistischen Theorien Ethik und Politik enger verklammert als in neueren liberalen Theorien. Nicht nur, weil das Leben in gelingender Gemeinschaft selbst etwas Gutes ist. Das wäre eine instrumentalistische Verkürzung, welche liberale Alarmlampen anwirft, weil sie eine Unterordnung legitimieren könnte. Sondern: Wenn Individuen eine gute Entwicklung nehmen wollen und sollen, es aber unmöglich allein können, ist es gut, wenn die Gemeinschaft die Individuen dabei unterstützt. Daher ist dann auch diejenige Gemeinschaft 'gut', in der sich die Individuen gut entwickeln können: 'Ideal society is the system of complementary, perfected individuals' (David Norton 1976: 181). Gut im perfektionistischen Sinn ist nicht nur die Entwicklung einzelner Menschen. Gesucht werden Anhaltspunkte für eine gute Entwicklung möglichst vieler Menschen, gerade angesichts der Vielfalt an Entwicklungswegen sowie an Leiden unter versäumter oder von anderen verhinderter Entwicklung.
Eine Gemeinschaft, die an der Entwicklung der Menschen interessiert ist, muss allerdings eine Vorstellung davon haben, was eine gute Entwick-lung ist und was die entsprechenden Mittel wären, die ein Individuum bzw. die Gesellschaft dafür braucht. Der Perfektionismus ist als Versuch einer Antwort auf diese Frage zu verstehen. Er hat daher von vornherein einen institutionellen und interessierten Blick auf die Menschen.
'Ist der Staat das, was er sein soll ..., so wird er ... die Tätigkeiten der Menschen nach ihren verschiedenen Neigungen, Empfindsamkeiten, Schwächen und Bedürfnissen aufwecken und ermuntern' (Herder 1793: 101).
Das erklärt vielleicht, warum er besonders relevant wird, wenn es darum geht, politische Gemeinschaften auf- oder umzubauen: in Aufklärung und Progressivismus ebenso wie heute, nach Jahrzehnten eines kulturellen und sozialen Trockenlegens. Der institutionelle Blick erklärt zudem, wie Gleichheit und individuelle Verschiedenheit zugleich behauptet werden können: Aus dem Teleskopblick der Institutionen sind alle Personen zwar je einmalig, doch gibt es von ihrer Natur her keine Unterschiede, die eine un-gleiche Behandlung rechtfertigen könnte - keine Stände, Klassen, Rassen, Geschlechter oder Religionen. Mit diesem politischen Blick hängt der Zug des Perfektionismus zur Objektivität zusammen. Für ihn entscheiden momentane subjektive Befriedigungen nicht über die Güte eines Zustandes:
'Perfectionism is a moral theory according to which certain states or activities of human beings, such as knowledge, achievement and artistic creation, are good apart from any pleasure or happiness they bring, and what is morally right is what most promotes these human ?excellences? or ?perfections? ' (Hurka 1998).
Daher ist in diesem Zusammenhang von einer 'objektiven Theorie des Guten' die Rede. Ein beliebtes Beispiel dafür ist der Drogenrausch, der subjektiv und momentan angenehm sein mag, objektiv und langfristig, das heißt: für die Beurteilung der Lebensqualität des Entsprechenden aus der Sicht distanzierter Dritter, eher negativ zu beurteilen ist. Dass diese Dritten Experten sein können, die ein objektives Wissen beanspruchen (heute viel-leicht Ärzte und Psychologen, früher Priester oder Weise), ändert nichts daran, dass diese Wertung eine soziale Praxis ist. Im Bereich der Ethik ist die Abgrenzung als objektive Theorie des Guten gegen 'subjektive' Vor-stellungen vom Guten gewendet, die dieses utilitaristisch als Lust (pleasure, welfare) oder Wunscherfüllung (desires, preferences) interpretieren. Dem wird ein langfristiges Gelingen ('Blühen') des menschlichen Lebens gegen-übergestellt, was indes zumindest insofern im Subjekt verankert sein muss, als ein fremdbestimmtes Leben kein gutes Leben wäre. Damit ist eine Nähe zur Autonomieethik Kants gegeben, der, Christian Wolff folgend, eine Pflicht zur eigenen Vervollkommnung kannte: 'Baue deine Gemüts- und Leibeskräfte zur Tauglichkeit für alle Zwecke an' (Kant 1797: A 392).
Die neuere liberale Trennung in einen gefährlichen 'Staatsperfektio-nismus' (Kymlicka 2002: 248, 277) und harmlose 'Theorien des Guten' für den Privatbereich ist für den älteren Perfektionismus daher in gewisser Weise künstlich. Da er nicht in dieses Raster passt, geriet er für den Liberalismus aus dem Blickfeld. Den Perfektionismus nun, da er in die Diskussion zurückkehrt, in das Feld eines rein prozeduralen Liberalismus und entpolitisierter Vorstellungen vom Guten unterzubringen, ist schwer. Dabei ist diese Kartographie keine überhistorische Gegebenheit, sondern eher jungen Datums (Sandel 1996: 274ff.; Skidelsky 2012: 86ff.), während perfektionistische Gegenpositionen auf eine recht lange Geschichte zurückblicken können - nur sind sie in der Debatte wenig präsent und gerade daher Verdächtigungen ausgesetzt. Daher ist es ein Anliegen dieser Arbeit, die philosophischen Traditionen auf solche Fragen hin neu zu lesen und durch symptomatische Neulektüren für Gegenwartsfragen aufzubereiten.



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